Delmenhorster Institut für Gesundheitsförderung (DIG)

Kinder haben die wenigsten Chancen

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Johann Böhmann und Linda Dervishaj, vom Delmenhorster Institut für Gesundheitsförderung, erklären in unserer Serie „Gesunde Kinder“, warum es wichtig ist, Kinder psychisch kranker Eltern zu unterstützen.

Die psychische Gesundheit verbessern und den Zugang zur Versorgung erleichtern – das ist das Ziel des EU-Projektes „Ja-Imple-Mental“, an dem das Delmenhorster Institut für Gesundheitsförderung (DIG) mitwirkt. Der Fokus liegt auf dem Bereich Kinder psychisch und/oder suchtkranker Eltern. „Das ist ein Thema, das viele Menschen betrifft“, sagt Linda Dervishaj, wissenschaftliche Mitarbeiterin. „Es ist aber sehr schambehaftet, weshalb viel zu wenig darüber gesprochen wird.“ Dies soll sich ändern.

„Viele Menschen wissen um die Problematik Bescheid“, sagt Johann Böhmann, ehemaliger Chefarzt der Kinderklinik und Leiter des DIG. „Aber viele haben auch das Gefühl, dass wir nicht genug machen können, also dass unser System nicht dazu da ist, um den Betroffenen so früh wie möglich zu helfen.“ Dieses Gefühl sei eine Belastung, insbesondere für das Fachpersonal. „Alle Menschen, die mit diesem Projekt oder dieser Thematik zu tun haben, wissen, dass man viel mehr machen müsste.“ Dies sei ein Dilemma. „Das ist bedauerlich, weil das genau die Menschen sind, die die wenigsten eigenen Chancen haben.“ Einem Kind sei es nicht möglich, eigenständig einen Psychiater aufzusuchen. „Wenn dann noch die Eltern selbst betroffen sind, also etwa depressiv sind, dann gehen die auch nicht für das Kind zum Arzt.“ Das bedeute, dass das Kind doppelt allein gelassen ist. „Wenn dann noch dazu kommt, dass die Rahmenbedingungen schlecht sind, also Faktoren wie Armut, schlechte soziale Lage, schlechte Wohnbedingungen oder Corona, dann hat das Kind dreimal die Nieten gezogen.“

Ein Universum an Leid

„Für Kinder ist es wichtig, eine Bezugsperson zu haben“, sagt Linda Dervishaj. „Wenn diese wegfällt, dann ist es häufig das Problem, dass die Kinder irgendwo auffällig werden.“ Nur dann sei schon sehr viel passiert. „Ein Kind holt sich durch Auffälligkeit Zuwendung“, ergänzt Johann Böhmann. „Eine körperliche Bestrafung zum Beispiel ist auch eine Form der Zuwendung.“ Es passiere erst dann etwas, wenn das Kind auffällig wird. „Jungs fallen zum Beispiel eher durch Aggressivität auf.“ Das Klassische seien die Schulverweigerer. „Wir wissen überhaupt nicht, was sich für ein Universum an Leid hinter manchen Schulverweigerern verbirgt, aber derjenige wird bestraft.“ Mädchen seien im Gegensatz zu Jungen eher in sich gekehrt und werden essgestört oder machen selbstverletzendes Verhalten. „Das ist zwar sehr stereotypisch, aber es sind die klassischen Dinge, die auftreten.“

„Wir reden in Delmenhorst von 300 bis 400 Kindern, die betroffen sind“, sagt Böhmann. „Das sind 400 verschiedene Geschichten.“ Eine typische Geschichte oder einen typischen Verlauf gebe es nicht. „Eine klassische Geschichte ist etwa die von Hape Kerkeling in „Der Junge muss an die frische Luft“, der zwar eine depressive Mutter hatte, aber gleichzeitig auch eine tolle Nachbarschaft, die sich um den Jungen gekümmert hat.“ Sehr viele Kinder würden eine Stärke entwickeln, die aber nicht unbegrenzt ist. „Hape Kerkeling hat seine Clownerie zum Beispiel als Selbstheilung genutzt.“ Aber die Biografie Kerkelings sei eben nur ein Beispiel von vielen.

Achtsamer werden

„Kinder finden meistens ihren Weg, das heißt, die schauen, wo sie Hilfe bekommen können“, sagt Böhmann. Da reiche ein Blick von einem Lehrer, einem Sozialarbeiter oder einem Nachbarn. „Manchmal treffen die Kinder dabei allerdings auch auf die falschen Menschen und werden zu klassischen Missbrauchsopfern.“ Die Missbrauchstäter seien diejenigen, die eine Antenne für mögliche Sorgen der Kinder haben, diese dann aber eben missbrauchen. Es müsse sich die Frage gestellt werden, wie man achtsamer werden kann, beispielsweise in Kindergärten und Schulen, um solche Missbrauchstaten besser verhindern oder zumindest erkennen zu können und dann angemessen zu helfen.

„Wir haben für unsere Teilnahme an dem Projekt auch Kritik bekommen“, sagt Böhmann. Es gebe in Delmenhorst bereits ganz viele Anlaufstellen, an die sich Betroffene wenden können. „Da wurde uns dann gesagt: Es gibt doch schon so viel, macht nicht noch etwas Neues.“ Dies sei eine berechtigte Kritik. „Deshalb ist es uns wichtig, das zu fördern, was bereits da ist.“