Delmenhorster Institut für Gesundheitsförderung (DIG)

„Medizin wird als Reparaturbetrieb missbraucht“

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Johann Böhmann, ehemaliger Chefarzt der Kinderklinik und Leiter des Delmenhorster Instituts für Gesundheitsförderung, spricht über den Beruf als Arzt und warum die Medizin missbraucht wird.

Herr Böhmann, als Patient ist es häufig nicht so leicht, nachzuvollziehen, welcher Aufwand und welche Verantwortung hinter dem Beruf eines Arztes stecken. Wie würden Sie den Alltag eines Arztes beschreiben?

Johann Böhmann: Als Kinderarzt hat man es im Grunde sehr leicht, denn wir sind auf der Seite der Menschen, die von allein wieder gesund werden. Alte Menschen haben dazu nicht mehr die Reserven. Das hat die Natur so eingerichtet, dass die Selbstheilungskräfte geringer sind. Deshalb sind wir Kinderärzte auch so optimistisch und glauben auch daran, dass alles gut wird. Der Spruch von Kinderärzten ‚Das wächst sich aus‘ ist sehr unpopulär geworden, aber der ist schon richtig. Es ist heute eine Kunst nicht überzureagieren und das ist nicht unproblematisch. Ich habe als junger Arzt sehr viel Angst gehabt, vor diesen ‚Hauruck-Medizinern‘: Da ist ein Symptom und da muss man gleich was machen und nicht abwägen. Medizin ist kein Schwarz-Weiß-Denken. Abwägen ist in Krisensituationen wie bei einem Herzstillstand natürlich Quatsch. Aber in den meisten Fällen haben wir eben nicht diese dramatischen Erkrankungen. Überall sind es immer die dramatischen Erkrankungen, die natürlich in Erinnerung bleiben. Die 990 gut verlaufenden Erkrankungen mit Selbstheilungskräften sind nicht so spektakulär.

Wie kam es dazu, dass Sie Kinderarzt geworden sind?

Das sind ganz viele Zufälle, die dazu geführt haben. Der Optimismus in der Kinderheilkunde ist einfach etwas Tolles. Sie müssen selten Menschen beim Sterben begleiten. Heute im Alter finde ich auch das einen ganz wichtigen Punkt. Aber als Kinderarzt hat man damit sehr wenig zu tun. Ich habe die Menschen auf der Erwachsenen-Intensivstation nicht beneidet um ihren Job. Ich war eine Zeit lang als Kinderchirurg tätig. Es ist einfach viel schöner, wenn man nicht 200-Kilo-Menschen operieren und wenn man nicht Menschen behandeln muss, die sich selbst sehr schädlich verhalten haben, also nicht auf ihr Gewicht oder ihre Ernährung geachtet haben. Die Medizin wird missbraucht, genau wie die Schule, die soll alles richten, was zu Hause schiefgelaufen ist.

Inwiefern wird die Medizin missbraucht?

Wir haben meiner Ansicht nach die Medizin missbraucht zu einer Art Reparaturbetrieb, wie in einer Autowerkstatt. Viele Menschen sind leider überhaupt nicht dazu bereit, selbst etwas für sich zu tun. Gesundheit ist eine industrielle Entwicklung geworden. Diät machen war gestern, heute nimmt man eine Pille. Krankengymnastik zum Beispiel dauert eine halbe Stunde. Da kann ich nicht viel rationieren. Ich kann keinen Roboter dahin stellen. Aber wenn ich dasselbe mit einer Pille erreichen kann, ist das viel günstiger. Wenn ich also mit einem Medikament etwas erzielen kann, was ich sonst nur mit mühsamer Handarbeit erzielen kann, dann hat man einen Preisvorteil. Depressionen, zum Beispiel: Ich habe eine teure Therapie, ein Jahr lang Psychotherapie, zwei Stunden die Woche oder ich habe eine Pille gegen Depressionen. Die Pille gegen Depressionen können Sie rationell herstellen, weltweit produzieren und kostet nachher ein paar Cent. Sie müssen nur dafür sorgen, dass die Leute daran glauben und zur Not ein paar Studien fälschen, damit die Leute glauben, das bringt was. Bei der Depression ist das hochumstritten. Es ist schrecklich, wie viele Milliarden für Medikamente gegen Depressionen ausgegeben werden und wir haben dagegen sehr viele Studien, die bei sehr vielen Patienten eine Wirkung bezweifeln. Chemie ist immer billiger als menschliche Arbeit und das ist tragisch. Die rein menschliche Medizin durch Sprechen, durch Verstehen, wird immer mehr zurückgedrängt. Vor allem die Bereiche, die sich auf das Gespräch fokussieren, haben es schwer. Die Hausärzte zum Beispiel sind die Verlierer in diesem System, das heißt, die Tätigkeit, in denen Menschen verstehen wollen, wird nicht honoriert. Auch die Patienten honorieren so etwas nicht. Dass 80 Prozent aller Krankheiten durch ein Gespräch und durch eine ganz normale körperliche Untersuchung festzustellen sind, wird völlig ignoriert. Damit ist aber auch verbunden, dass die Menschen ein wenig erzogen werden müssen. Ich arbeite manchmal noch im Krankenhaus und immer wenn ich Jugendliche untersuche, frage ich die immer ab: Wo sitzt die Leber? Wo sitzt der Magen? Die wissen nichts. Wenn in der Schule mehr medizinisches Wissen vermittelt werden würde, dann würden sich die Menschen selbst helfen können und entscheiden, wann sie zum Arzt gehen müssen.

Haben Sie das im Alltag häufig erlebt, dass Menschen wegen Lappalien zum Arzt gekommen sind?

Ja, ich habe aber auch erlebt, dass Kollegen mit ihren Kindern zum Arzt gegangen sind, obwohl sie an sich wissen müssten, dass das nicht notwendig ist. Aber da kommt dann die emotionale Seite ins Spiel. Bei den eigenen Kindern ist man viel ängstlicher. Für sich selbst würde man eher Risiken eingehen. Das muss man aber verstehen. Ich glaube, dass ich mir in meinem Leben immer sehr viel Mühe gegeben habe zu beraten und die Leute aufzuklären. Ich habe damit sehr gute Erfahrung gemacht. Und was ich immer wichtig fand, ich habe die Leute extrem ernst genommen und deren Sichtweise auch übernehmen und verstehen können. Wenn man das nicht kann, sollte man nicht Arzt werden. Medizin ist keine Naturwissenschaft in dem Sinne. Man hat ganz viele naturwissenschaftliche Methoden, aber es ist immer noch eine Sozialwissenschaft für mich. Das heißt, die Kommunikation ist das Entscheidende. Und an diesem Zwischenmenschlichen fehlt es häufig.

Können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie sich nach dem Studium an Ihrem ersten Tag als Arzt gefühlt haben?

Das ist der typische Praxisschock. Man fängt bei null an, aber mir war schon im Studium klar, Medizin lernst du erst in der Praxis. Medizin ist ‚learning by doing‘. Natürlich muss man Basics drauf haben. Aber vieles, was man im Studium lernt, ist ein gewisser Ballast, den man in seiner jeweiligen Fachrichtung nicht braucht. Das Medizinstudium ändert sich glücklicherweise, aber es muss sich noch viel mehr ändern. Es gibt da diesen klassischen Spruch: Der erste Patient, dem man begegnet, ist eine Leiche. Das ist die große Hürde für alle Mediziner. Ich finde das hochumstritten. Wir sehen nur den Körper und nicht das, was den Menschen ausmacht. Meiner Meinung nach müssten wir es umgekehrt machen. Also erst in der Praxis anfangen, mit einer pflegerischen Ausbildung, dann würden erstens die Menschen, die sich nicht dafür geeignet fühlen, aufhören und zweitens würde man den praktischen Bedarf sehen.

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