Delmenhorster Institut für Gesundheitsförderung (DIG)

Ein Drittel der Menschen müsste nicht zum Hausarzt

dr._johann_bohmann

Herr Böhmann, in Delmenhorst wird häufig darüber gesprochen, dass es zu wenig Hausärzte gibt und deshalb die Wartezimmer überfüllt sind. Welche Symptome machen einen Besuch bei einem Hausarzt überhaupt erforderlich?

Johann Böhmann: Das ist schwierig zu sagen, weil das kulturell bedingt ist. Grundsätzlich kann man sagen, wenn Krankheiten von alleine nicht weggehen. Die meisten Krankheiten verbessern sich von alleine, denn der Körper hat ein riesiges Heilungspotenzial. Wir haben ein tolles Abwehrsystem gegen Infektionen. Es gibt aber auch Symptome, bei denen man natürlich einen Arzt oder Rettungssanitäter braucht, zum Beispiel bei massiver Atemnot. Wenn bei der Atmung Probleme auftreten, und damit meine ich nicht einen Hustenanfall, dann ist das ernst zu nehmend und immer ein Grund Hilfe zu rufen. Herzklopfen zum Beispiel ist kein Grund. Wir alle haben einen unregelmäßigen Herzschlag. Das ist geradezu ein Zeichen von Lebendigkeit. Nur schwerstkranke Menschen haben einen regelmäßigen Herzschlag. Herzrasen und Herzstolpern haben viele Menschen und ist kein Grund zur Panik, Atemnot schon. Ich würde mir wünschen, dass jeder Mensch eine Yoga-Erfahrung macht und dadurch auf seine Atmung achten kann, unabhängig davon, ob er Probleme mit der Atmung hat oder nicht.

Welche Rolle spielt die Aufklärungsarbeit bei diesem Thema?

Je besser Menschen aufgeklärt sind, desto weniger brauchen sie einen Arzt. Es wird im Verhältnis zu unseren technischen Möglichkeiten viel zu wenig für die Aufklärung zur Selbsthilfe getan. Die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass unsere Systeme völlig überlaufen sind, ist Menschen aufzuklären. Sie müssen in den Stand versetzt werden, sich selbst helfen zu können. Die niedergelassenen Ärzte und die Ärzteorganisationen wären für mich dafür verantwortlich, so viel aufzuklären, dass ein Mensch weiß, wann er nicht zum Arzt gehen muss.

Also würden Sie sagen, dass man mit Aufklärungsarbeit den Ansturm auf die Arztpraxen reduzieren kann?

Ja, das ist zum Beispiel mit dem Gesundheitskiosk in Hamburg bewiesen. Eine Evaluation hat dabei gezeigt, dass die Rate der Menschen, die Notfallambulanzen aufgesucht haben, um 23 Prozent gesunken ist. Wir alle jammern völlig zu Recht, weil wir keine Ärzte haben, aber wir machen nichts dafür, dass die Leute instand gesetzt werden, dass sie da gar nicht hingehen müssen. Für die Menschen wäre es toll, wenn sie selbstbewusster werden würden. Wenn sie für ihren eigenen Körper mehr verantwortlich wären, dann würde es ihnen besser gehen. Und dann könnten wir auch unser System für die nutzen, die es brauchen.

Dann gehen also zu viele Menschen zum Arzt, obwohl sie es nicht müssten?

Der Anteil ist gigantisch hoch. Ich würde locker sagen, dass mindestens ein Drittel der Menschen, die zum Arzt gehen, eigentlich nicht hingehen müssten, sondern sich selber helfen könnten und auch von alleine wieder gesund werden. 

Welche Konsequenzen resultieren daraus?

Das führt zum einen zu Kosten, aber auch zu Fehlbehandlungen. Die Ärzte haben verständlicherweise das Gefühl, etwas tun zu müssen, wenn beispielsweise ein kerngesunder Patient zum dritten Mal mit Herzbeschwerden in die Praxis kommt. Es gibt aber auch eine kleine Gruppe von Menschen, die zu spät kommen, obwohl sie Symptome haben. Bei psychischen Erkrankungen zum Beispiel gehen die meisten zu spät zum Arzt. Es gibt immer Symptome, bei denen Menschen sich nicht trauen, zum Arzt zu gehen. Diese Einstellung gibt es, ist aber die Ausnahme. Die Regel ist, insbesondere in der jungen Generation, dass man sich nicht selber helfen kann. Das Entscheidende ist Angst und Unsicherheit, weshalb die Menschen zum Arzt rennen. Das Medizinsystem und auch die Medien verängstigen manchmal die Menschen mit Horrorgeschichten. Wenn zum Beispiel bestimmte Serien am Wochenende im Fernsehen laufen, dann wissen die Arztpraxen, dass am Montag die Praxis voll ist. Viele Ärzte haben aber auch ein Problem damit, den Menschen die Symptome, die sie bei Google festgestellt haben, wieder auszureden.

Wie verhalte ich mich richtig, wenn es mir nachts oder am Wochenende schlecht geht?

Dabei geht es um die Frage, wie viel weiß man über seinen eigenen Körper und sein eigenes Befinden. Wenn ich das Gefühl habe, dass es mir nicht gut geht, ist das ungefährlich. Wenn die normalen Körperfunktionen noch funktionieren und stabil sind, dann legt sich das in der Regel wieder von alleine. Aber wenn ich zum Beispiel dauerhaft erbrechen muss, dann muss ich mir Hilfe holen. Der erste Ansprechpartner ist immer der Hausarzt.

Wen kann ich anrufen, wenn es mir nicht gut geht und die Hausarztpraxis geschlossen hat?

Es gibt die Servicenummer 116117. Das ist immer die erste Nummer, die man anrufen kann. Die können einen beraten und können sagen, ob es sich bei den Symptomen wirklich um einen Notfall handelt. Auf keinen Fall immer die 112 anrufen, es sei denn bei einem Unfall oder zum Beispiel Erstickungsgefahr. 

 

Das Interview führte Laura Cecere.