Delmenhorster Institut für Gesundheitsförderung (DIG)

Pflege wurde zum reinen Kostenfaktor

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Herr Böhmann, zurzeit breiten sich die Atemwegserkrankungen, wie etwa das RS-Virus oder Grippevirus aus. Viele Kliniken stoßen inzwischen an ihre Grenzen, weil es an Fachkräften mangelt. Wie schätzen Sie die Lage am Krankenhaus der Stadt Delmenhorst ein?

Johann Böhmann: In Delmenhorst ist die Lage der Krankenhauspolitik aufgrund der Zusammenschließung der beiden Krankenhäuser deutlich besser. Es ist dennoch so, dass wir zu viele Patienten haben und zu wenig geschultes Personal. Da ist 20 Jahre in den gesamten Fachbereichen nicht investiert worden. Die Industrie oder die sogenannte freie Wirtschaft haben sich um die Personalentwicklung schon viel länger gekümmert.

Also würden Sie sagen, dass der Mangel an Fachkräften nichts Neues ist, sondern schon viel länger besteht?

Also für wen das ein neues Thema ist, der hat die letzten zehn Jahre verschlafen. Das muss man ganz drastisch so sagen. Die Pflege wurde mehr und mehr zum reinen Kostenfaktor, statt zum Qualitätsmerkmal. Es gibt sogenannte Fallpauschalen, bei denen die Krankenhäuser beispielsweise für eine Blinddarmoperation einen bestimmten Preis bekommen. Für die betriebswirtschaftlich sinnvolle Steigerung von Fallzahlen braucht es einen Arzt und nicht die Pflege. Für die Pflege kommt kein Patient zusätzlich in die Klinik, sondern nur aufgrund der Operation. Die Pflege kostet demnach nur Geld, weshalb daran gespart wurde. Es wurden immer mehr Ärzte eingestellt, während Pflegekräfte im großen Umfang abgebaut wurden.

Welche Konsequenzen resultieren aus solchen Versorgungsengpässen?

Das ist ein sich selbst verstärkender negativer Regelkreis. Das heißt, dass die Menschen, die zurzeit arbeiten, noch weiter ausbluten werden und der Krankenstand im Gegenzug weiter ansteigen wird. Dazu kommen dann noch die Menschen, die sich aus dem Berufsfeld zurückziehen und kündigen. Dadurch werden die Fachkräfte, die noch da sind, noch mehr belastet. Das ist ein regelrechter Teufelskreis.

Was hat das für Auswirkungen für die Patienten?

Der Patient ist natürlich am Ende der „Nahrungskette“ und muss das ausbaden. Doch auch Patienten sind nicht völlig unschuldig an der Situation. Wir Ärzte geben schnell den Patienten die Schuld, weil sie nachts um drei mit einem eingewachsenen Zehennagel in die Notaufnahme kommen. Aber letztendlich geht es bei dem Thema nicht um Schuldzuweisungen. Die Faktoren, die dazu geführt haben, sind sehr vielschichtig. Ein Faktor ist aber auch das relativ hohe Anspruchsverhalten von ziemlich unaufgeklärten Patienten. Denn für die Aufklärung von Patienten wurde in den letzten Jahren nur wenig getan. Prävention und Gesundheitsförderung spielt in Deutschland einfach keine Rolle.

Warum haben die Patienten aus Ihrer Sicht zu hohe Ansprüche an das Gesundheitssystem?

Die Menschen sind verunsichert. Das liegt zum einen daran, dass die Medien vermehrt negative Schlagzeilen verbreiten. Auf der anderen Seite haben die meisten keine Möglichkeit, sich innerhalb der Familie auszutauschen und von den Erfahrungen der Großeltern beispielsweise zu profitieren. Es gibt diese ganz blöden Sprüche wie „Das wächst sich aus“ oder „Das geht auch wieder weg“, die im Kern aber richtig sind. Kinder sind durch diese Infektionen kaum gefährdet. Das RS-Virus ist eine deutlich schwere Infektion, die schwerer verläuft als eine Coronainfektion. Das betrifft aber insbesondere Kinder, die bereits vorerkrankt sind oder auch Frühgeborene. Gesunde Kinder sind kaum gefährdet. Die Belastbarkeit innerhalb der Gesellschaft ist schlechter als früher. Dazu kommt, dass wir in einem Wohlfahrtsstaat leben, der uns alle Sorgen abnimmt.

Was muss sich ändern, damit wir einer Unterversorgung entgegenwirken können?

Wir müssen diese Krise zum Anlass nehmen, um fundiert darüber zu reden. Jetzt wird sozusagen „action gemacht“, aber nach einem Monat ist das Ganze dann wieder vergessen. Das Problem sind auch die Akteure selber. Dass die Pflegekräfte zum Beispiel ihre Pflegekammer in Niedersachsen abgeschossen haben, ist ein Eigentor gewesen. Es ist wichtig, dass die Pflegekräfte für sich selbst sprechen und solche Organisationen haben, die für sie sprechen. Dass Gesundheitsminister Lauterbach für die Pflegekräfte sprechen muss oder Menschen auf den Balkon gehen, um zu klatschen, finde ich einfach peinlich. Das ist kein Zeichen von Solidarität, sondern ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.

Wie schätzen Sie die Lage bei den Berufseinsteigern ein? Gibt es aus Ihrer Sicht weniger junge Menschen, die einen Beruf im Gesundheitswesen anstreben?

Die Pflege hat einfach kein gutes Image in Deutschland, weshalb die meisten jungen Leute eine andere berufliche Richtung einschlagen. In anderen Ländern ist die Rolle der Pflege viel selbstbewusster und eigenständiger. In Deutschland fehlt einfach die Wertschätzung für den Beruf.

 

Das Interview führte Laura Cecere.